Für die Sommerferien suchte ich ein Gebiet in den Bergen, das a) wir noch nicht kennen b) keine Lifte, Bergbahnen und andere Bespassungsanlagen hat und c) viel Natur hat. So kam ich auf Wergenstein. Dass es so viel Spannendes am Schamserberg, zu dem Wergenstein gehört, zu entdecken gibt, hätten wir alle nicht gedacht.
Zuerst eine Übersicht über das Gebiet am Schamserberg:
Zum Lej Libi
Die erste längere Wanderung führt uns zum Lej Libi (auf der Landkarte ohne Name). Wir starten in Lohn und steigen durch den Wald hoch. Wir kommen jedoch nur langsam voran, überall zwitschert es und wir müssen all diese Stimmen identifizieren, denn schliesslich wollen wir auch etwas Citizen Science betreiben und melden die Vögel an eine Datenbank. Der Wald ist licht, nicht so dicht bewachsen wie bei uns im Unterland. So sind auch die Strukturen vielfältiger, ebenso die Vogelwelt. Und anders. Misteldrosseln, Zaunkönige, Buchfinken und Rotkehlchen singen überall. Als wir den Wald verlassen, entdecken wir einen schönen Alpenbirkenzeisig, kurz darauf Bluthänflinge, ebenfalls mit rotem Gefieder.
Nun geht es über Alpgelände weiter, das Reich der Ringdrossel, welche wir auch prompt entdecken. Etwas weiter hören wir den Vogel, für den der Schamserberg bekannt ist: Die Feldlerche. Hier soll es die grösste Population der Schweiz geben. Tatsächlich hören wir überall Lerchen. Der Lej Libi liegt in einer Senke, darauf schwimmen zwei Lachmöwen. Möwen? Hier oben? Sehr ungewöhnlich. Das findet auch die Vogelwarte, am Abend werde ich ein Mail erhalten, dass diese Beobachtung an diesem Ort sehr ungewöhnlich ist. Wohlweislich mache ich ein paar Bilder, die ich dann an die Meldung hänge. Nach einer längeren Pause steigen wir über Mursenas ab nach Mathon. Unterwegs verlieren wir Silvan, der eine Trockensteinmauer nach Schlangen absuchen will. Er trifft dann etwas später im Restaurant Muntsulej ein, wo wir bereits daran sind, unseren Durst zu stillen.
Relive ‚Zum Lej Libi und nach Mathon‘
Lej Libi zum Zweiten
Einige Tage später wählen wir wieder den Lej Libi als Ziel. Wir starten wieder in Lohn, holen jetzt aber gegen Norden aus bis Summapunt. Die Sonne scheint, wir haben eine wunderbare Aussicht. Der Weg ist allerdings mehr ein Schlammbad, die Kühe haben hier ganze Arbeit geleistet. Weiter oben wird es besser. In einer dürren, liegenden Fichte singt eine Klappergrasmücke. Ich pirsche mich heran, es gelingt mir, ein paar Bilder von dem Vogel zu machen. Insgesamt kommen wir nur sehr langsam voran, zu viel gibt es zu entdecken. Bei Summapunt folgen wir weiter den Wegweisern zum Lej Libi. Dieser ist aber weder auf Schweiz Mobil noch auf anderen Karten verzeichnet. Er führt mitten durch eine blühende Wiese. Weiter oben entdecke ich einen Fuchs, der uns zuerst gespannt, dann ziemlich relaxed beobachtet. Zuerst sind wir uns nicht sicher, ob es wirklich ein Fuchs ist, er erscheint uns sehr hell und ziemlich gross. Aber es ist einer.
Wir gehen weiter auf dem neuen Wanderweg, wo sogar Orchideen mitten auf dem Pfad blühen. Wir durchqueren wunderschön blühende Alpwiesen, lauschen den Vögeln, auch der Kuckuck ruft. Und bald stehen wir wieder am Lej Libi, diesmal ohne Möwen. Dafür entdecken wir zwei Braunkehlchen, ein Vogel, der bei uns im Unterland als Brutvogel längst ausgestorben ist. Diesmal steigen wir den Weg ab, den wir letztes Mal hochgekommen sind, schwenken allerdings weiter unten nach Mathon ab und landen wieder im Restaurant Muntsulej.
Relive ‚Zum Lej Libi‘
Schneehühner auf der Alp Anarosa
Diese Wanderung kürzten wir mit dem Alpentaxi ab und starteten bei Tguma da Tumpriv. Gemütlich geht es vorerst auf der Alpstrasse leicht abwärts. Wir beobachten zahlreiche Murmeltiere, die ganz unterschiedlich auf uns reagieren. Die einen schlagen Alarm, die anderen würdigen uns nicht mal eines Blickes. Bergpiepermännchen zelebrieren ihren Singflug, den sie mit ihrem monotonen Gesang untermalen, der an einen Rasensprenger erinnert. Plötzlich stürmen von oben zwei Gämsen den Hang hinunter, springen über meterhohe Felsen und rennen vor uns durch. Wir können also nicht der Grund gewesen sein. Ob es wohl ein Wolf war, der sie so erschreckt hat?
Wir gehen weiter nach Curtginatsch und Nurdagn. Ich schaue mit dem Fernglas Richtung Grauhörner und Mutolta, in der Hoffnung, Steinböcke zu entdecken, erblicke aber keine. Immer wieder steigen Bergpieper und Feldlerchen zu ihrem Singflug auf. Ein Paar holt uns ein, mit frei laufenden Hunden. Toll, das war’s dann mit den wilden Tieren, die verscheuchen ja alle! Kaum sind sie vorbei, sehe ich etwas herumhuschen zwischen den Steinen. Was ist das? Ich nehme das Fernglas: Zwei Alpenschneehühner im Sommerkleid! Sie flattern nicht auf und davon, sondern verlassen sich auf ihre Tarnung. Deshalb sind sie auch wegen den Hunden nicht davongeflogen. Ich pirsche mich heran, sie laufen weg. Bald verliere ich sie wieder. Wir rasten erst mal, aber es lässt mir keine Ruhe. Ich schleiche mich nochmals in die Richtung, in der ich sie zuletzt gesehen habe. Tatsächlich, da sind sie immer noch! Sie haben mich im Auge, ich sie in der Linse. Was für eine wunderbare Begegnung! Die beiden anderen hatten keine Geduld und gingen weiter, ich eile ihnen hinterher. „Hattest du Erfolg?“ fragt die Frau. Ich sage nichts und grinse nur.
Wir erreichen den Lai Grand, der nur im Vergleich zum Laj Pintg, dem kleinen See, gross ist. Eine wunderschöne Landschaft breitet sich vor uns aus. Wir steigen nun ab, folgen dem Bach, queren das Moor. Es geht zum Teil steil abwärts, wir erreichen Danis. Weiter geht es nach Dumagns, unterwegs fliegen Felsenschwalben über uns hinweg. Von Dumagns bleib uns noch der Abstieg nach Wergenstein, den wir ja bereits kennen.
Relive ‚Alp Anarosa‘
Von Wergenstein rüber nach Sufers
Dies ist quasi die Fortsetzung der Wanderung von vorhin. Wir starten vor der Haustüre in Wergenstein und steigen hoch nach Dumagns. Die Nacht davor hat es geregnet, dicke Wolken hängen noch über dem Tal, während die Sonne aufgeht. Nach Dumagns folgen wir der Alpstrasse nach Danis. Plötzlich flattert vor uns etwas auf. Das muss ein Hühnervogel gewesen sein der Grösse nach. Wir suchen hangabwärts und entdecken einen Vogel auf einer Lärche. Nach der ersten Vermutung, es sei ein Steinhuhn, kommen wir überein, dass es ein Haselhuhn sein muss. Leider ist es sehr weit weg. Wir gehen weiter, ein Ringdrossel-Paar sucht in der Kuhweide nach Futter. Bei Danis überqueren wir den Fundogn, so der Name des Baches.
Der Himmel klart auf, die Sonne übernimmt zunehmend den Platz der Wolken. Wir steigen hoch nach Plan Cardaletsch. Ab da suchen wir gezielt nach Feldlerchen und Braunkehlchen, was ursprünglich der Plan von Silvan war, denn die Vogelwarte möchte wissen, ob diese hier vorkommen. Wir finden aber keine, dafür viele Bergpieper, sogar ein Nest mit Jungen. Als wir auf dem Wanderweg anhalten, flitzt plötzlich vor unseren Füssen ein Vogel vorbei. Wir entdecken ein Erdloch, schauen rein – und finden ganz kleine Bergpieper! Schnell gehen wir weiter, um sie nicht weiter zu stören.
Zum Laj da Vons
Der Weg geht nun immer leicht abwärts durch den Wald, bis wir die Alp Promischur erreichen. Es ist ziemlich warm geworden. Wir entdecken ein wunderschönes Exemplar eines Birkenzeisigs in vollem Prachtkleid. Nun steht uns ein weiterer Anstieg bevor. Wir kommen an blühenden Wiesen vorbei, darin tummeln sich Braunkehlchen. Nun haben wir aber den höchsten Punkt erreicht, es geht abwärts zum Laj da Vons. Schön glitzert er vor uns in der Sonne. Wir gehen linkerhand an ihm vorbei. Nach dem See geht es einfach noch abwärts durch den Wald nach Sufers, wo wir uns im einzigen Restaurant etwas zu trinken gönnen, bevor wir wieder zurück nach Wergenstein fahren.
Relive ‚Von Wergenstein nach Surfers‘
Höhepunkt Piz Beverin
Am letzten Tourentag am Schamserberg soll es nochmals hoch hinaus gehen. Die Frau und ich starten am Morgen früh kurz vor halb sechs Uhr, die Sonne ist noch nicht hinter den Bergen hervorgekommen. Wir steigen strammen Schrittes hoch nach Dumegns, lassen diesmal Vögel Vögel sein. Das Reh am Wegrand grüssen wir trotzdem freundlich.
Auch die Strecke nach Dumegns kennen wir, wir steigen auf der sich im Bau befindlichen Strasse hoch, ein hässliches Bauwerk, dessen Sinn sich uns nicht erschliesst. Item, bald erreichen wir den Punkt bei Faschas, wo sich die Wege trennen: Links zum Carnusapass und weiter zum Glaspasse, rechts nach Mursenas und geradeaus zum Piz Beverin, welche wir natürlich nehmen.
Es wird alpin
Das Gras wird immer kürzer, die Steine und Felsen zahlreicher, die Murmeltiere pfeifen uns aus. Bald sind wir im Geröll und müssen die ersten Schneefelder queren. Auch steilt sich der Weg nun auf, wir müssen ihn suchen, da er zum Teil noch unter dem Schnee liegt. Kurz unter der Beverinlücke queren wir nach rechts, wo uns ein steiles, eisiges Schneefeld den Weg versperrt. Das schreckt die Frau nicht, so geht voran, erreicht die Felsen und steigt weiter hoch. So bleibt mir nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. In diesem Moment hätte ich nun lieber einen Eispickel statt der Kamera, aber es geht auch so. Wir steigen nun also wieder in einfachem Gelände hoch, als wir ein Schnarren hören. Da entdecken wir ein Alpenschneehuhn! Und noch eins! Und noch eins, vier, fünf! Sie steigen gemächlich hoch, sich voll auf ihre Tarnung verlassend, den sie haben uns natürlich lange vorher gesehen.
Nun ist es nicht mehr weit, noch ein Schneefeld queren und die letzten Meter auf dem Rücken hoch, dann stehen wir auf dem Gipfel. Wenn ich die Hand hoch halte, ist diese auf 3000 Meter, denn der Gipfel ist 2998 Meter hoch. Wir geniessen die Aussicht ins Safiental und andere Täler und Berge ohne Zahl. Grossartig! Zum Pausieren ist es allerdings eine Spur zu windig, wir machen uns an den Abstieg, aber auf die Südseite. Hier scheint alles irgendwie in Bewegung zu sein, ein richtiger Geschirrladen. Man muss aufpassen, dass man nicht einen grösseren Felsblock runterschickt. Mittendrin machen wir dann Pause und geniessen die Aussicht und die Ruhe. Vom Beverin Pintg her sehen wir die Spätaufsteher hochsteigen. Um uns herum fliegen Vögel, wir zücken sogleich die Ferngläser. Es sind Alpenbraunellen, die hier ihr Revier haben.
Die Leiter hoch
Wir setzen unseren Abstieg fort und sehen schon das zweite Pièce de Résistence: Eine acht Meter hohe, senkrechte Leiter, die man hoch muss. Dank den seitlichen Handläufen lässt es sich prima hochklettern. Nun heisst es nur noch hinuntergehen, im Gegensatz zu jenen, die wir kreuzen, denen steht noch eine ziemliche Anstrengung bevor. Wir wählen für den Abstieg nach Mathon nochmals einen neuen Weg, der nicht ausgeschildert ist, aber auf der Karte verzeichnet. Zum letzten Mal beschliessen wir eine Tour im Restaurant Muntsulej. verdient haben wir es und entsprechend gut schmeckt die Belohnung.
Relive ‚Piz Beverin‘
Wandern und beobachten im Tal
Waren die Wetterprognosen unsicher, suchten wir uns alternativen im Tal. Dank dem Postauto waren wir schnell und einfach am Ausgangsort und auch wieder zurück.
Von Donat nach Andeer
Für die erste unsichere Prognose schlug ich vor, die Rofflaschlucht zu besuchen. Das stiess bei Silvan nicht auf Begeisterung, er suchte sich auf der Karte ein Gebiet, das faunistisch interessant aussah. So fahren wir nun also nach Donat und starten dort unsere Wanderung. Bereits am Dorfausgang finden wir einen ersten Höhepunkt: Einen singenden Gartenrotschwanz. Für den zweiten Höhepunkt mussten wir nicht weit gehen, im Gras entdeckt Silvan eine Schlingnatter.
Durch den Wald steigen wir hoch, danach über Felder abwärts nach Clugin. Wir entdecken mindestens drei Neuntöter. Wären die Hecken optimaler, gäbe es bestimmt noch mehr. Bei Clugin erreichen wir den Hinterrhein, dem wir nun folgen. Anscheinend war der Weg bis vor kuzem noch unter Wasser, so wie es hier aussieht. Durch den Auenwald erreichen wir bald Andeer, wo wir uns die verdiente Stärkung genehmigen in einem Café. Und zwischenzeitlich regnet es auch tatsächlich.
Relive ‚Von Donat nach Andeer‘
Im Naturschutzgebiet Munté
Den zweiten Joker zogen wir an einem späteren Tag. Tatsächlich sind die Berge noch wolkenverhangen und verheissen nichts Gutes. Wieder nutzen wir das Postauto, um nach Thusis zu gelangen, von dort bringt uns die RhB nach Rodels. Voll ausgerüstet mit den Birderutensilien, brechen wir auf ins Naturschutzgebiet. Es umfasst fünf Teiche, dazwischen liegt ein Föhrenwald. Am ersten Teich ruft eine Blässhuhnmama nach ihren Jungen, die auch prompt auftauchen. Viele Libellen sitzen in den Stauden, die auffliegen, als wir vorbeigehen. Auf dem zweiten Teich ruft ein Zwergtaucher, eine Reiherente führt ihre fünf Jungen aus. Im Föhrenwald entdecken wir einen Neuntöter, ein ungewöhnliches Habitat für diesen Vogel. In einer Hecke auf den Feldern entdecken wir einen weiteren, dies entspricht der Art. Mauersegler pfeilen über unsere Köpfe hinweg, Rehe verstecken sich in den Getreidefeldern.
Wir wählen den Weg rüber zum Rhein und zurück, wo wir hergekommen sind. Es beginnt zu regnen, das hält Silvan und mich aber nicht ab vom Fotografieren, derweil die Frau es nicht lassen kann, Neophyten auszureissen. Bald ist aber mal genug Regen, wir lassen uns nach Thusis zurücktransportieren, wo wir genug Aufenthalt haben, um uns Kaffee und Kuchen zu genehmigen.
Relive ‚NSG Munté‘
Unterkunft und so
Wir haben wohl die einzige Ferienwohung in Wergenstein gekriegt. Sie ist geräumig und praktisch eingerichtet. Sind wir nicht vorher schon eingekehrt, machten wir das sicher im Dorf im Hotel Capricorn, das uns auch das tägliche Brot verkaufte. Wir waren als die „Brotgäste“ bekannt. Gleich hinter dem Dorf gibt es schöne Wiesen, die zahlreiche Insekten beherbergen, was Silvan und ich fotografisch ausnutzten.
Ein Wermutstropfen war, dass es keinen Laden in Wergenstein für die Lebensmittel gab, dieser ist im Nachbardorf Mathon. Man könnte eine fünfminütige Fahrt mit dem Postauto dorthin machen – oder eine Wanderung, so wie wir es jeweils gemacht haben. Was man da alles erlebt!