Die Lais da Macun liegen auf einer Hochebene und sind eine Exklave des Nationalparkes. Ein Taxidienst fährt bis zur Waldgrenze hoch – wenn das Taxi fährt. Da es dies bei uns nicht tat, starteten wir in Zernez, 1500 Höhenmeter vor uns. Zum Glück lasen wir erst am Abend, dass die Nationalparkverwaltung von einem Zugang zu den winterlichen Lais da Macun ab Zernez abrät.

Macuner Seenplatte
Macuner Seenplatte

Es ist noch dunkel, als wir zum Bahnhof marschieren, aber die Sterne funkeln am Himmel. Beste Voraussetzungen also für diese lange Wanderung von Zernez über den Piz Baselgia zu den Macun-Seen und wieder abwärts nach Lavin. Es dämmert, als wir in Zernez starten, steigen den Weg hoch durch den Wald. Stille umgibt uns, wir gehen schweigend. Es ist noch zu früh für Gespräche. Statt dessen mustern wir aufmerksam die Umgebung in der Hoffnung, Tiere zu entdecken. Da hüpft denn auch ein Eichhörnchen umher, klettert blitzschnell eine Fichte hoch. Die hohen Berggipfel werden allmählich von der Sonne beschienen, einzelne Wolken ziehen am Himmel vorbei.

Maskottchen am Himmel

Der Blick reicht das ganze Engadin hoch, zuhinterst prangt die gewaltige Felswand des Piz Badile im Bergell. Der Weg führt zum Glück nicht die ganze Zeit der Strasse entlang, sondern kürzt auf Wanderwegen ab. Mit der aufkommenden Sonne erwacht auch der Wald, Vögel ziepen, krächzen und pfeifen.

Bei den Tannenhähern, dem Logovogel des Schweizerischen Nationalparks, herrscht Hochbetrieb, sie fliegen hin und her auf der Suche nach Arvennüssen, die sie für den Winter sammeln. Man stelle sich das vor: Ein Tannenhäher sammelt im Herbst jeweils bis zu 100’000 Arvennüsse und legt damit Verstecke an. 80 – 90 % davon findet er im Winter wieder! Die restlichen Nüsse werden keimen. Bis in die Sechzigerjahre wurden Prämien auf Tannenhäher ausbezahlt, da behauptet wurde, dass sie den Arven schaden. Erst allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass das Gegenteil der Fall ist, dass der Tannenhäher essenziell ist für die Verbreitung der Arve. Ohne den Vogel könnte sich der Nadelbaum nicht verbreiten, da die Nüsse zu schwer sind, um vom Wind verbreitet zu werden wie bei den Fichten oder Föhren.

Die Wolken werden dichter

Wir nähern uns der Waldgrenze, als plötzlich zwei Vögel davonfliegen. Klar ist: Es sind Hühnervögel gewesen. Für Auer- und Birkhahn waren sie zu klein. Was bleibt? Das Haselhuhn! Diese scheuen Vögel kriegt man kaum je zu Gesicht, sie leben sehr versteckt und gut getarnt in Wäldern. 

Am Himmel ziehen immer mehr Wolken auf. Wir steigen zwischen den Lawinenverbauungen hoch, zwei Arbeiter reparieren eine beschädigte Konstruktion. „Eigentlich hätten wir das schon viel früher machen müssen, zum Glück hat es noch keinen Schnee“, erklärt er uns. Beim Munt Baselgia machen wir eine Pause, es ist kalt geworden. Fallen da tatsächlich Tropfen? Es sieht rundum grau und düster aus, dabei war für heute gutes Wetter angesagt, jedenfalls keine Niederschläge. Wir geniessen aber vorerst die Aussicht auf den Ofenpass und ins Münstertal. Der Vergleich ist inzwischen ziemlich abgedroschen, aber beim Anblick der Wälder und Berge wähnt man sich in Kanada. 

Regen auf dem Gipfel

Nun wird der Weg anspruchsvoll, es liegt Schnee. Ketten sichern zum Teil den Weg, uns dienen sie aber eher zur Orientierung. In der Tourbeschreibung wird darauf hingewiesen, dass man schwindelfrei sein sollte, das muss wohl hier sein. Bald stapfen wir nur noch durch Schnee. Wir erreichen den Gipfel des Piz Baselgia, der auf der Karte Spi da Baselgia heisst. Man scheint sich beim Namen noch nicht so einig zu sein, denn auf den Wegweisern steht „Piz Baselgia“. Und dann beginnt es doch tatsächlich zu regnen! Damit hätten wir heute wirklich nicht gerechnet, aber natürlich sind wir vorbereitet und ziehen die Regenjacken an. Unter uns liegen die Macun-Seen, dazwischen ein Gesprenkel aus weiss und grau, also Schnee und Fels. Es ist eine schöne Stimmung, trotz dem miesen Wetter. Oder wegen?

Wir halten uns nicht lange auf, steigen zur Fuorcletta da Barcli ab. Der Weg ist anspruchsvoll über den verschneiten Blockgrat, wie leicht könnte man doch in eine Felsspalte treten und sich den Fuss brechen. Wir erreichen aber sicher den Pass. Von dort wird es nicht einfacher, der Weg ist verschwunden unter dem Schnee. Dabei weist die Tafel auf dem Pass ausdrücklich darauf hin, dass man die Wege nicht verlassen darf. Ha! Erst mal finden. Wir halten uns natürlich so gut wie möglich daran, tappen im tiefen Schnee abwärts. 

Bei den winterlichen Lais da Macun

Endlich wird es flacher, der Weg ist klarer sichtbar. Auf der Moräne, ungefähr 20 Meter von uns entfernt, entdecken wir zwei Schneehühner. Wir können sie gut beobachten, obwohl sie uns gesehen haben, fliegen sie nicht davon. Dann entdecken wir noch eins. Und noch eins! Sie sind perfekt getarnt, wechseln gerade vom Sommer- ins Winterkleid, genau wie die Landschaft, in der sie sich bewegen. Ich schaue beim Weitergehen nochmals zurück: Mehr als acht Hühner picken unbekümmert nach Nahrung!

Wir sind immer noch mutterseelenallein, kein Wunder bei diesen anspruchsvollen Verhältnissen. Der Regen scheint nun vorbei zu sein, es wechselt ständig zwischen Sonne und dichtem Gewölk. Wir erreichen den Lai d’Immez, den am Rand eine Eisschicht ziert. Wir verlassen nun die Seenplatte und kehren in den Herbst zurück. Die Lärchen beginnen sich zu verfärben, die älteren von aussen nach innen, die jungen von innen nach aussen. Die höchstgelegenen Lärchen wachsen immer weiter oben, noch auf ungefähr 2500 Meter wachsen welche. In der Schule in den achtziger Jahren hatten wir noch gelernt, dass die Waldgrenze auf 1800 Meter liegt, im Engadin auf 2000. Dass die Waldgrenze immer höher steigt, ist ein klares Zeichen für die Klimaerwärmung. 

Ein langer Abstieg

Bei der Alp Zeznina Dadaint überqueren wir den Bach, der fröhlich sprudelt. Der Weg ist sehr angenehm zum Gehen, weich und nicht steil. Bei einer Verzweigung nehmen wir nicht den offiziellen Weg, der der Strasse folgt, sondern bleiben auf unserem, was wahrscheinlich die bessere Variante ist.

Bald fährt der Zug. Bei der Brücke in Lavin schauen wir auf den Wegweiser: „Bahnhof 15 Minuten“. Und wir haben noch sechs Minuten! Wir spurten in den Wanderschuhen und dem ganzen Gepäck hoch zum Bahnhof, währenddem löse ich gleich noch das Billet. Schon praktisch, diese Smartphones. Wir erreichen das Perron, der Zug fährt ein. Perfektes Timing, einmal mehr. Wir plumpsen in die Sessel und strecken unsere Beine. Was für eine Wohltat! Und was für eine epische Wanderung!

Info

Wenn man auf das Taxi verzichtet, ist es eine sehr lange und abwechslungsreiche Wanderung in fantastischer Landschaft mit vielen Höhenmetern.

Start: Zernez
Ziel: Lavin
Strecke: Zernez – Plan Sech – Piz Baselgia (so ist er auf dem Wanderwegweiser angeschrieben) – Macuner Seenplatte – Val Zeznina – Lavin
Distanz: 21 Kilometer
Höhenmeter: 1510 Meter
Dauer: 8 Stunden
Schwierigkeit: T3
GPS-Track: Senda Lais da Macun
Höhepunkte: Aussicht, Piz Baselgia, Seenplatte, Val Zeznina, Tiere
Alternative: Mit dem Taxi kann die Strecke verkürzt werden.

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